Praxisbeispiel: Warnzeichen in der Physiotherapie und Ergotherapie
Die folgenden Praxisbeispiele orientieren sich an realen Situationen aus dem Gesundheitswesen; alle Namen sind frei erfunden.
Das Erkennen von Gewalt hängt sowohl vom eigenen Fachwissen als auch von der persönlichen Haltung gegenüber Betroffenen ab. Es ist wichtig, die eigenen Vorstellungen darüber zu reflektieren, wie Betroffene „sein sollten“ oder wer typischerweise betroffen ist – denn solche Annahmen beeinflussen Wahrnehmung und Handeln.
In der ambulanten physiotherapeutischen Versorgung
Anna Meißner, 34 Jahre alt, kommt in die physiotherapeutische Praxis. Vor zehn Wochen zog die sich eine Akromioclavikulargelenk-Sprengung (ACG-Sprengung) zu, die nun konservativ behandelt wird. Sie hat zwei Kinder (3 und 5 Jahre) und lebt mit ihrem Partner zusammen. Beruflich ist sie als Programmiererin tätig und derzeit krankgeschrieben.
Bei der Anamnese zeigt sich, dass Anna Meißner neben der akuten Problematik weitere Belastungen hat: Seit der Geburt ihres zweiten Kindes leidet sie unter chronischen Schmerzen im unteren Rücken, nimmt seit 2 Jahren Antidepressiva und gibt eine Autismus-Spektrum-Störung an.
Auf die Frage, wie es zu der ACG-Sprengung kam, sagt sie, sie sei gestürzt. Auf die Nachfrage nach ausreichend Unterstützung im Alltag mit den Kindern berichtet sie, dass sie sehr eingespannt sei und deshalb erst jetzt zur Physiotherapie komme. Sie hoffe jedoch, durch die Behandlung schnell wieder fit zu werden.
Während der Sitzung klingelt ihr Handy und sie geht sofort ran. Das Telefonat wirkt hektisch; Anna Meißner erklärt mehrfach, dass sie gerade bei der Physiotherapie sei und nicht telefonieren könne; sie verspricht aber, gleich nach der Behandlung nach Hause zu kommen. Nach dem Telefonat wirkt sie sehr blass und ihre Stimme zittert. Sie erzählt, dass ihr Partner angerufen habe, weil er allein mit den Kindern nicht zurechtkomme, und sie nun schnell zurück müsse.
Auf der Stroke Unit
Gundula Schreiber ist 55 Jahre alt und befindet sich seit drei Tagen auf der Stroke Unit nach einem hämorrhagischen Apoplex (Schlaganfall). Sie zeigt noch eine deutliche Hemiparese (Halbseitenlähmung). Am ersten Tag verläuft die Therapie vielversprechend: Nach Assessments zur Befunderhebung werden erste Eigenübungen zur Verbesserung der posturalen Kontrolle und der Mund-Hand-Koordination erarbeitet.
Am nächsten Tag ist der Partner von Frau Schreiber zu Besuch. Er wirkt besorgt, ist aber gleichzeitig erfreut, dass eine physiotherapeutische Fachperson hinzugezogen wurde. Er möchte bei der Behandlung dabei sein, um selbst zu lernen, wie er seine Frau unterstützen kann. Während der Therapie fällt dem Fachpersonal auf, dass Frau Schreiber angespannt wirkt, kaum selbst spricht und schlechter koordiniert sowie kognitiv langsamer erscheint als am Vortag.
Diese Praxissituationen zeigen, dass die Hinweise auf Gewalt oft nicht eindeutig sind. Einige Patient*innenberichte lösen ein ungutes Bauchgefühl aus oder werfen Fragen auf. Genau in solchen Situationen ist es wichtig, aufmerksam zu bleiben, zu handeln und Patient*innen aktiv anzusprechen.
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