Handeln in der Gynäkologie und Geburtshilfe
Eine Schwangerschaft und die Zeit nach der Geburt eines Kindes sind Lebensphasen, in denen häusliche Gewalt besonders häufig beginnt oder eskaliert. Betroffene können während der Schwangerschaft und im Wochenbett körperliche, psychische und sexualisierte Gewalt erleben. In manchen Fällen ist die Schwangerschaft selbst eine Folge einer Vergewaltigung innerhalb der Beziehung.
Gewalt in der Schwangerschaft birgt erhebliche gesundheitliche Risiken: Sie kann zu Blutungen, Früh- oder Fehlgeburt führen und wirkt sich negativ auf die Entwicklung des ungeborenen Kindes aus. Auch eine Unter- oder Mangelversorgung des Fötus kann ein Hinweis auf bestehende Gewalt sein. Deswegen ist es wichtig, Gewalt durch Partner*innen in die Diagnostik einzubeziehen und mögliche Anzeichen frühzeitig zu erkennen.
Selma Haridy, 32 Jahre alt, ist im sechsten Monat schwanger. Sie erscheint an einem heißen Sommertag zur Vorsorgeuntersuchung – trotz der Temperaturen trägt sie lange Hosen und ein langärmliges Oberteil. Ihre Lippe ist eingerissen, der Bereich um den Mund leicht geschwollen.
Sie klagt über Schlafstörungen, Schwindel und berichtet über Gewichtsverlust, da sie in letzter Zeit keinen Appetit habe. Während des Gesprächs vermeidet sie Blickkontakt, erzählt wenig und antwortet nur knapp. Zudem hat sie ihre beiden vorherigen Termine verpasst. Frau Haridy wird von ihrer Schwiegermutter begleitet, mit der sie und ihr Partner zusammenleben.
Traumainformierte Untersuchung
Die gynäkologische, insbesondere die vaginale Untersuchung ist für viele Patient*innen unangenehm. Für Menschen mit Erfahrungen sexualisierter Gewalt kann sie jedoch stark belastend sein und das Gefühl körperlicher Ausgeliefertheit hervorrufen. Nicht selten meiden Betroffene dadurch gynäkologische Versorgung, was während der Schwangerschaft schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben kann.
Eine traumasensible Herangehensweise kann helfen, Vertrauen aufzubauen und eine kontinuierliche medizinische Betreuung sicherzustellen. Gleichzeitig bietet sie die Möglichkeit, Betroffenen Unterstützung anzubieten und sie weiterzuvermitteln.
Merkmale einer traumainformierten Untersuchung:
- Behutsam in die Untersuchung einleiten: „Für viele Frauen ist die Untersuchung auf dem Stuhl unangenehm, manche haben Schmerzen – wie ist das bei Ihnen?“ (Schumann & Gras 2023)
- Alle Schritte der Untersuchung vorher ankündigen.
- Schaffen Sie eine sichere räumliche Atmosphäre: Keine Unterbrechungen und Störungen während der Untersuchung.
- Klären Sie, ob eine zusätzliche Person (zum Beispiel medizinische Fachangestellte) im Raum als Unterstützung gewünscht wird.
- Wahren Sie die Autonomie der Patientin: Vereinbaren Sie im Vorfeld der Untersuchung ein Signal, mit dem die Untersuchung jederzeit abgebrochen werden kann.
- Achten Sie auf körperliche Stressreaktionen (flache Atmung, schwitzen, vaginale Verkrampfungen) und bieten Sie ggf. Pausen an.
Dissoziation und Flashbacks
Eine vaginale Untersuchung kann trotz aller Sensibilität psychische Reaktionen bei betroffenen Personen ervorrufen. Anzeichen sind Apathie, „weggetreten sein“, Weinen, Panik oder aggressive Reaktionen. In solchen Momenten hilft es:
- die Betroffene wiederholt mit ihrem Namen anzusprechen,
- Ort und Zeit zu benennen,
- Körperkontakt anzubieten: die Hand geben und sanft zum Drücken auffordern,
- auf die Umgebung aufmerksam zu machen, auffordern mehrere Gegenstände im Blickfeld zu benennen,
- Sicherheit herzustellen.
Im Anschluss sollte das Erlebte vorsichtig angesprochen und bei Bedarf auf therapeutische Angebote hingewiesen werden.
Traumasensibel und traumainformiert
Traumainformiertes Arbeiten basiert auf fundiertem Wissen über Trauma und Traumafolgestörungen. Das spezifische Wissen fließt in die Diagnostik und Therapie ein. Traumainformiertes Handeln umfasst sowohl die Gesprächsführung als auch den Einsatz antidissoziativer Techniken. Die Voraussetzung ist eine traumasensible Haltung, die darauf abzielt, erneute Viktimisierungen und Stigmatisierungen Betroffener zu verhindern.
Traumainformiertes Handeln ist immer Teamarbeit – der Betroffenenrat Berlin bietet dazu Fortbildungen an.
Weiterführende Informationen
Was tun bei häuslicher Gewalt und in der Schwangerschaft? Lesen Sie dazu: